Rauschen
Es gibt keine Abstraktion; jede Figur, das Formlose ist eine Neuerung des Abendlandes, das Nichtige, die Leere, das Nichts sind barbarische Wörter, die eine Kultur von Verfolgern, Zerstörern, die unsere Kultur geprägt hat.
Was haben wir, wenn man näher hinsieht, Originaleres, Spezifischeres hervorgebracht als diese Idee des Nichts, der Abwesenheit? Letztlich ist das unsere eindeutigste kulturelle Leistung. Genau diese Abwesenheit wollte ich befragen, wo befand sich diese Leere? Ich ging also auf die Suche.(…)
Da uns die triviale Geometrie vertraut ist, nehmen wir den Kreis, die Kugel, den Würfel oder das Quadrat durchaus wahr, schenken aber den Intervallen, den Zwischenräumen zwischen den Dingen, zwischen den Menschen kaum Beachtung. Diese von den Körpern ausgeschnittenen, von Formen ausgestanzten Konfigurationen entgehen uns …jedenfalls haben solche zufälligen Gebilde nahezu keine wahrnehmbaren Spuren in unserer Weltanschauung hinterlassen; ihr veränderliches, mit einer unmittelbaren Beziehung verbundenes Wesen ist uns nie besonders wichtig vorgekommen. Im Gegenteil, diese Figuren sind für unser analytisches Bewußtsein, für unseren Forschungsdrang viel zu schnell überholt, wir haben diese Bewegung, die Linien verschiebt, immer mehr oder weniger gehaßt. Aber nun befand ich mich plötzlich im Innern eines reich geschmückten Raumes, das Gefühl, in der Wüste zu sein war verschwunden, von nun an konnte ich immer, wenn ich die Augen öffnete, nach Belieben die Banalität der zeitgenössischen formellen Produktion oder aber unmittelbar daneben den Reichtum der Antiformen betrachten. Ich mußte mich nur nach links, nach rechts bewegen, um zu erleben, wie sie sich unentwegt in etwas Neues verwandelten.(…)
Die Sicht auf die Zwischenwelt war äußerst gefährdet, das Bild der Transparenz überdauerte nur dank angestrengter Wahrnehmung, die Antiform nur für die Zeit dieser Anstrengung, dann trat die Form wieder in ihre Rechte ein und verdunkelte das Feld der Leere, nachdem der Hintergrund einen Augenblick in Erscheinung getreten war.(…)
In der Tat nahm ich bei direkter Beobachtung zweier Gegenstände jedesmal einen dritten wahr, der sich aus ihrem Zusammentreffen bildete; die Leere, die Transparenz nahm zwischen ihnen Gestalt an, die Zwischenform hatte unleugbar mindestens ebensoviel zahlenmäßiges Gewicht wie jede Form für sich allein.

Virilio (1989), S.7ff

Rachel Whiteread,
House (1993-94)
Rachel Whiteread, Untitled (Books) (1997), Stahlkonstruktion, Gips und Polyurethanschaum
RAUSCHEN

…die Elemente dieser letzten Mannigfaltigkeiten sind Teilchen; ihre Relationen sind Abstände; ihre Bewegungen sind Brownsche Bewegungen; und ihre Quantität sind Intensitäten und Intensitätsunterschiede.

Deleuze/Guattari (1992), S.52



Rauschen als Phänomen spielt in vielen Wissenschaften, wie z. B. der Kommunikations- wissenschaft, der Physik und der Mathematik, eine bedeutende Rolle, da es in unzähligen natürlichen und künstlich erzeugten Prozessen auftritt und Einfluß ausübt.
Allgemein gesehen ist Rauschen ein fester Bestandteil der Natur (z. B. thermisches Rauschen), jedoch ist vor allem das akustische Rauschen als das unmittelbar wahrnehmbare Rauschen für den Menschen von besonderer Relevanz. Es kann durch das komplexe Verhalten chaotischer Systeme entstehen, wie z.B. das Rauschen des Windes oder Wassers in turbulenten Strömungen. Es wird auch von maschinellen und elektronischen Geräten erzeugt; und oft führt eine Vermengung von Umweltgeräuschen zu einem Rauschen, das unser selektiver Hörprozeß zugunsten „relevanter“ Klanginformation aussondert und in den Hintergrund unserer Wahrnehmung drängt. Meist nehmen wir das Rauschen nur unbewusst wahr, doch ist es ständiger Begleiter unseres Seins, denn „selbst im schalltoten Raum würden wir nicht nichts, sondern das Rauschen hören, das durch die turbulente Strömung des Blutes in unseren Ohren hervorgerufen wird.“ (Höldrich [1995],S.126f)



Die Erscheinung des Rauschens

Das wichtigste Charakteristikum des Rauschens ist sein „Spektrum“. Das Spektrum eines Tones stellt seine Energieverteilung auf die Frequenzen dar (diese sind für den Tonhöheneindruck verantwortlich).
Desweiteren ist für Rauschsignale charakteristisch, dass sie in hohem Maße unkorreliert sind, d.h. ausgehend von vorhergegangenen Werten können die darauf folgenden nur mit einer relativ geringen Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden. Die Begriffe „rosa “, „braun “und „schwarz“ bezeichnen unterschiedlich stark korrelierte Formen des Rauschens mit unterschiedlichen Frequenzanteilen, wobei das rosa Rauschen wesentlich „zufälliger“ ist als das braune oder das schwarze Rauschen.
Je chaotischer sich die Sprünge von einem Wert zum nächsten gestalten, desto mehr nähert sich das Rauschen dem Modell des „perfekten “Rauschens an – dem sogenannten „weißen“ Rauschen.
Dieses Rauschen ist charakterisiert durch ein Spektrum mit gleichen Energien bei allen Frequenzen; es ist vollkommen unkorreliert. Das weiße Rauschen lässt jeden Tonhöheneindruck vermissen, denn es umfaßt alle Frequenzen im hörbaren Bereich von ca.16 Hertz bis 20.000 Hertz. Die Bezeichnung „weiß“ ist der Optik entlehnt, da sich im weißen Licht das gesamte Spektrum des sichtbaren Lichts findet.
Obwohl es möglich ist, bei der Generierung von akustischem Rauschen eine große Annäherung an das Modell des perfekten Rauschens zu erreichen, ist weißes Rauschen strenggenommen ein theoretisches Konstrukt (vgl. Schröder [1994], S.134).
Ein vollkommenes, in allen Frequenzbereichen gleichmäßiges Rauschen kann also lediglich näherungsweise erzeugt werden.
In der Praxis erscheint das rosa Rauschen als psychoakustisches Äquivalent zum weißem Rauschen, da sein Energiespektrum der logarithmischen Frequenzskala des Innenohrs entspricht. „Rosa Rauschen hat annähernd die Eigenschaft, gleich lange Abschnitte der Basilarme
mbran im Ohrinnern zu Schwingungen gleicher Amplituden anzuregen, und somit einer konstanten Anzahl von Hörnerven, die den Schall an das Gehirn weiterleiten, zu stimulieren.“ Schröder (1994),S.136



Rauschen und Antiform

Ist das Rauschen also zufällig und nur statistisch vorhersagbar, so bilden deterministische Signale dessen Gegenstück. Ein Beispiel eines vollkommen deterministischen Signals ist der Sinuston. Der Sinuston, auch als „reiner Ton“ bezeichnet, besteht aus einer streng periodischen Schwingung; sein Frequenzspektrum kann als eine Linie in Höhe der Frequenz dargestellt werden.
Die grafische Darstellung dieses Klangphänomens verdeutlicht den Eindruck, der sich allgemein beim Hören von Rauschen und Ton einstellt: daß das Rauschen als Fläche, Fülle oder Gesamtheit, der Ton jedoch als distinkte Form verstanden werden kann.
Es stellt sich die Frage, wann ein Rauschen zum Ton wird (und umgekehrt).
Wird ein Rauschen gefiltert, entsteht ein Rauschband. Bei einer Bandbreite von weniger als ca.20%* entsteht für den Zuhörer ein Tonhöheneindruck, bei weniger als ca. 5% geht der Rausch-Charakter verloren, das Ohr nimmt einen fluktuierendem Ton wahr. Die Grenze zwischen Ton und Rauschen ist natürlich kontextabhängig und variiert von Person zu Person. Das Verhältnis zwischen hörbarem und gefiltertem Anteil des Klangsignals bestimmt seine Erscheinung: wird der größere Teil des Signals gefiltert, ist ein Ton zu hören; wird ein kleiner Anteil gefiltert, bleibt das Rauschen.

Da das Rauschen alle für unser Hörvermögen relevanten Frequenzen umfaßt, kann es als klangliches Rohmaterial begriffen werden, bei dem durch das Wegnehmen von Frequenzen ein bestimmter Ton, eine Form entsteht. So wie sich für das Auge des Bildhauers in einem rohen Steinklotz eine Figur verbirgt, kann auch das Rauschen als unendlich reichhaltige Quelle von Klängen gesehen werden, deren Freilegung möglich ist. Der bewußt als solcher wahrgenommene Ton wäre somit ein spezieller Fall von Rauschen (vgl. Höldrich [1995 ], S.126-148).
Wer einem Rauschen lange genug „zugehört“ hat, wird bemerkt haben, daß dessen Gestaltlosigkeit schwer aufrecht zu erhalten ist. Man ist generell geneigt, einer bestimmten Frequenz den Vorzug zu geben oder gar eine Melodie hinein zu interpretieren. Dieses psychoakustisches Phänomen ist vergleichbar der Schwierigkeit, einem Bildrauschen zuzusehen, ohne darin ein Muster zu erkennen ( --> Rorschach-Test).

Auch die Fülle visueller Formen in unserem Gesichtsfeld wird durch unsere Wahrnehmung gefiltert. Paul Virilio beschreibt in der Einleitung von „Der negative Horizont“ die Schwierigkeit, den durch Objekte ausgeschnittenen Raum, die Formen zwischen den Formen, die „Antiform“ über längere Zeit hin wahrzunehmen. Er redet vom Kampf gegen seine Neigung, der Form den Vorrang vor der Antiform zu geben; von dem Versuch, seine Wahrnehmungsfilter auszuschalten. In dem Moment, in dem es ihm gelingt, den Zwischenraum wahrzunehmen, erfährt er dessen Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit.
So wie sich das Rauschen in der Stille finden läßt, entdeckt Virilio in der Leere, im Nichts die Reichhaltigkeit. Sind also die Stille und das Nichts reine Ideen, Begriffe für Zustände, die nur relativ erfahrbar sind? Auf jeden Fall handelt es sich um ein Phänomen sinnlich vermittelter Wahrnehmung. Das Nichts, die Idee des formlosen Raumes, und das Alles, die Idee des weißen Rauschens, haben für einen Rezipienten die Gemeinsamkeit, als Mannigfaltigkeiten zu erscheinen.

Das Rauschen als eine umfassende Mannigfaltigkeit bildet das Grundmaterial für alle Geräusche und Klänge in SUB_TRAKT .Alle akustischen Ereignisse der Installation sind zu Beginn ihrer Entstehung nichts als Rauschen.
Durch die Einflußnahme unterschiedlicher Bewegungs- und Raumparameter wird dieses Rauschen gefiltert und über Algorithmen mit Zeitmustern versehen. Es findet permanent ein Formungs-Prozeß statt.

SUB_TRAKT behandelt die spezifischen Beziehungen von Form — Antiform — Nichts sowie Ton — Rauschen— Stille auf unterschiedlichen Ebenen. Das Geschehen an den zwei Präsentationsorten ist ein sich ergänzendes, aber durchaus unterschiedliches.
Im Lichthof 3 entspricht der Klang der Bewegung. Durchquert eine Person den Raum, moduliert diese durch ihre Geschwindigkeit – also über ihre „Bewegungsfrequenz“ – die Frequenzhöhe und -Breite des Rauschbandes. Durch die Größe der sich bewegenden Person – also den Raum, den sie mit ihrem Körper einnimmt – werden weitere akustische Parameter wie z. B. die Resonanz gesteuert. So kann ein langsames Schlendern durch den Raum deutlich von einem schnellen Durchqueren (akustisch) unterschieden werden.
Je schneller und kleiner das sich bewegende Objekt ist, desto mehr nähert sich das Rauschen dem Ton. Ist keine Bewegung vorhanden, generiert die Installation keinen Klang. Sie ist still, und der Beobachtungsraum ist unberührt. Zwar ist die Filterung eines Klanges immer ein subtraktiver Prozeß, jedoch dominiert im Lichthof das additive Moment: durch Bewegung wird der Stille (respektive dem Grundrauschen des Raumes) Klang hinzugefügt.


Im Medientheater wird die bildliche und klangliche Umsetzung der Bewegungsdaten aus dem Lichthof um die zeitliche Komponente erweitert.
Das Volumen der virtuellen Substanz, die den beobachteten Raum im Lichthof repräsentiert, wird durch Bewegung in Raumabschnitte aufgespalten. Die Bewegung hinterläßt Spuren in der virtuellen Substanz, die langsam wieder „zuwachsen“.
Es handelt sich hier um ein subtraktives Vefahren. Die Substanz speichert also vergangene Bewegung, auch wenn im Lichthof keine Bewegung stattfindet. Genauso läßt jedoch die verstreichende Zeit eine „Landschaft des unberührten Raumes“ entstehen.

Geht man davon aus, daß die Bewegung der Menschen die Struktur von Orten generiert (vgl. Certeau [1988], S.188), dann könnte man die zur Darstellung gebrachte virtuelle Landschaft mit Virilio als Antiform der Bewegungsstruktur des Raumes bezeichnen.
Die Zielsetzung, eine adäquate Darstellung der Gegenform zur Bewegungsstruktur zu erreichen, berührt unter anderem umweltpsychologische Aspekte, wie sie etwa die Territorialverhaltens- forschung untersucht.
SUB_TRAKT berücksichtigt durch die Art und Weise der Spurenbildung in der virtuellen Substanz die Frage, wieviel Raum ein Mensch mit seiner Anwesenheit und Bewegung einnimmt und auf welche Weise er dies tut (Siehe Schaubild C; zur Entwicklung von SUB_TRAKT siehe Abbildungen A, B und D).

Das „unberührte“, nicht von Bewegungen zerfurchte Volumen des virtuellen Raumes findet seine Entsprechung in einem vollen Klang mit Ton-Charakter. Die räumliche Aufgliederung des virtuellen Volumens bewirkt eine klangliche Aufgliederung in Töne mit vielfältigen Frequenzen und Klangcharakteren. Aus einem Klang werden viele. Die Parameter der Raumabschnitte bestimmen dieses vielschichtige Klangbild, welches sich langsam (visualisiert durch das allmähliche „Zuwachsen“ der virtuellen Substanz) zu seiner klanglichen Grundstruktur zurückbewegt.
Wäre jedoch die virtuelle Substanz vollkommen abgetragen, würde keine Stille eintreten. Sondern Rauschen.


Anne Niemetz

I






II







III
Die Schaubilder illustrieren die Zeitverläufe dreier spezifischer Formen des Rauschens:

(I) „weißes“ Rauschen
(II) „rosa“ Rauschen
(III) „braunes“ Rauschen
Spektrale Darstellung der Frequenz über der Zeit:
Digital erzeugtes Rauschen
Sinuston (10.000 Hz)
Ton, durch Rauschfilterung generiert
* bezogen auf das menschliche Hörvermögen;100% würde demnach einer Bandbreite von 16 bis 20.000 Hz entsprechen
(A)
Erste Skizze der Bewegungslandschaft
(B)
Direkte Umsetzung von Bewegungsdaten; diese graben Schneisen in die virtuelle Substanz
(C)
Dreidimensionale Ausdehnung des „Persönlichen Raums“
Zu Figur C (Zitatauszug):
Lyman und M.Scott (1967) bezeichnen den Persönlichen Raum als Körperterritorium, das im Unterschied zu anderen Territorien nicht stationär, sondern tragbar ist. Wo immer wir stehen oder sitzen, wir sind auf allen Seiten von Persönlichem Raum umgeben (Gifford, 1997).
Die Konzeption des Persönlichen Raums analog zu einer den Körper umgebenden unsichtbaren Blase oder Hülle wird von verschiedenen Autoren als irreführend betrachtet (Bell et al., 1996; M.L. Patterson, 1975).
Das Blasen-Modell betone die Schutz-funktion gegenüber der Kommunikationsfunktion. Desweiteren legt es die Vorstellung nahe, der Persönliche Raum sei für alle Personen über alle Situationen hinweg von gleicher Größe. Ferner sei das Attribut personal oder persönlich falsch gewählt, da ja keine Personen-eigenschaft beschrieben werde, sondern eine Relation zu einer anderen Person.

Hellbrück/Fischer (1999), S.322
(D)
Erweiterte,endgültige Version der virtuellen Substanz,in welcher auch das nähere Umfeld durch Bewegung beeinflusst wird
Literatur

Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin 1988. Franz. Originalausgabe: L‘ invention du quotidien (Band 1: Arts de faire), Union Générale d‘ Editions, Paris 1980

Deleuze, Gilles / Guattari, Felix: Tausend Plateaus, Berlin 1992. Originalausgabe: Mille Plateaus, Minuit, Paris 1980

Hellbrück, Jürgen / Fischer, Manfred: Umweltpsychologie, Göttingen 1999

Höldrich, Robert R.: Auf der Suche nach dem Rauschen, in: Das Rauschen, Hrsg. von Sanio, Sabine/Scheib, Christian, Hofheim 1995

Sitte, Camillo: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Vermehrt um „Großstadtgrün“, Reprint der 4. Aufl.von 1909, Braunschweig/ Wiesbaden 1983

Schröder, Manfred: Fraktale, Chaos und Selbstähnlichkeit, Berlin 1994. Originalausgabe: Fractals, Chaos, Power Laws, New York 1991

Virilio, Paul: Der negative Horizont, München/ Wien 1989. Originalausgabe: L ‘horizon negatif, Editions Galilée, Paris 1984